Brutalism im UI-Design: Roh, direkt, polarisierend
Der zweite Teil unserer Serie über UI-Design-Trends beleuchtet einen Stil, der bewusst polarisiert: Brutalism. Was in den Betonbauten der 1950er Jahre begann, erobert heute die digitalen Interfaces.
Veröffentlicht am
Maximilian Pohl
In unserer Trend-Serie haben wir bereits Glasmorphism unter die Lupe genommen – einen eleganten, fast poetischen Ansatz. Brutalism schlägt in die komplett entgegengesetzte Richtung: Hier geht es um bewusst rohe Ästhetik, kompromisslose Direktheit und den kompletten Verzicht auf konventionelle Politur. Laut aktuellen Studien von ITEO ist Brutalism einer der prägendsten UI-Trends für 2024 und 2025.
Was macht Brutalism im UI-Design aus?
Brutalism im digitalen Design zieht seine DNA direkt aus der architektonischen Bewegung der Nachkriegszeit. Wie die massiven Betonbauten von Le Corbusier oder den Barbican Towers stellt auch digitaler Brutalism Funktion über Form – allerdings mit einer gehörigen Portion visueller Provokation.
"Brutalist UI design is best recognized by its unapologetically bold typography, stark and sometimes harsh color combinations, blocky layouts, minimal frills, and a focus on direct, functional communication" – wie UX Planet berichtet.
Die Grundprinzipien sind klar definiert: Modulare, blockbasierte Layouts trennen Inhalte in semantisch klare Bereiche. Typografie wird zu einem visuellen Brennpunkt – oversized, fett und bewusst unraffiniert. Farbpaletten setzen auf drastische Kontraste oder strenge Monochromie, manchmal unterbrochen von einem einzigen, grellen Akzent.
Die charakteristischen Merkmale brutalistischer Interfaces
Brutale Websites zeichnen sich durch mehrere wiederkehrende Elemente aus. Die Layouts basieren auf simplen, blockartigen Strukturen mit klaren, modularen Unterteilungen. Jeder Inhaltsbereich fungiert als eigenständige Einheit – ähnlich den Betonelementen brutalistischer Architektur.
Typography spielt die Hauptrolle: Schriften sind oft mehrfach übergroß, dominant und werden bewusst als gestalterisches Element eingesetzt. Design Lab erklärt, dass diese typografische Dominanz die Subtilität zugunsten maximaler Wirkung verwirft.
Die Farbwelten sind radikal reduziert. Schwarz-Weiß-Kombinationen mit einzelnen Signalfarben dominieren, oder aber bewusst "clashende" Kombinationen, die nach herkömmlichen Standards als harmonisch gelten würden. Diese Farbgebung verstärkt den modularen Charakter und dient als visueller Trenner zwischen Inhaltsbereichen.
Konkrete Umsetzungen und erfolgreiche Beispiele
Einige der interessantesten brutalistischen Websites von 2024 zeigen, wie vielfältig sich dieser Ansatz interpretieren lässt. Crocoblock analysiert mehrere prägnante Cases:
Beton-Minimalismus mit interaktiven Überraschungen
Hot Buro
Kontrastierende Schriftarten, funktionale Rohheit
Typography-zentriertes Design
Freak Mag
Chaotische, überlappende Elemente
Visuelle Anarchie, unkonventionelle Navigation
Diese Beispiele zeigen, dass Brutalism weit mehr ist als nur ein visueller Gag. Wix dokumentiert, wie Brands wie MA True Cannabis brutale Ästhetik nutzen, um sich in übersättigten Märkten zu differenzieren.
Technische Umsetzung: Bewusst simpel
Ein interessanter Aspekt von Web-Brutalism ist die oft bewusst schlichte technische Umsetzung. Viele brutale Sites verwenden minimal gestyltes HTML und CSS – manchmal sogar bewusst "unfertige" Elemente wie unstyled Bullet Points oder basic Tables.
Diese technische Direktheit spiegelt die philosophische Haltung wider: Authentizität vor Perfektion, Funktion vor Verschönerung.
Die dunkle Seite: Accessibility und Usability-Probleme
Während Brutalism visuell beeindruckt, bringt er erhebliche praktische Herausforderungen mit sich. LogRocket warnt vor den Accessibility-Risiken dieses Designansatzes.
Die extremen Kontraste und unkonventionellen Layouts können für Nutzer mit Sehbehinderungen problematisch werden. Screen Reader haben oft Schwierigkeiten mit chaotischen Layouts oder fehlenden semantischen Strukturen. Die bewusst "unfertige" Ästhetik kann zu unklaren Navigationswegen führen.
Usability-Herausforderungen in der Praxis
Die Priorisierung von Ästhetik über Usability zeigt sich in mehreren Bereichen. Unkonventionelle Navigationsstrukturen verlängern Lernkurven und können gerade ältere Nutzergruppen überfordern. Die oft reduzierte oder versteckte Navigation macht es schwer, sich auf größeren Sites zurechtzufinden.
Octet Design betont, dass brutale Designs häufig schlecht skalieren. Was bei einem kleinen Portfolio oder Experiment funktioniert, kann bei Enterprise-Anwendungen zu echten Produktivitätsproblemen führen.
Ein weiterer kritischer Punkt: Die polarisierende Ästhetik kann bestimmte Zielgruppen komplett ausschließen. Während junge, technikaffine Nutzer brutale Designs oft schätzen, reagieren konservativere Zielgruppen häufig mit Ablehnung oder Verwirrung.
Warum Brutalism jetzt? Der kulturelle Kontext
Der Brutalism-Trend entsteht nicht im Vakuum. In einer Zeit, in der digitale Oberflächen immer polierter und homogener werden, wirkt die bewusste Rohheit wie ein Gegengift. THE EDIGITAL analysiert, dass Brands zunehmend nach Wegen suchen, sich von template-basierten, korporativen Ästhetiken zu unterscheiden.
Besonders in kreativen Branchen und bei Tech-Startups beobachten wir einen Hunger nach Authentizität. Brutalism verspricht Ehrlichkeit und Direktheit – Werte, die in einer von KI und Automation geprägten Welt wieder an Bedeutung gewinnen.
Die Anti-Corporate-Bewegung
Viele brutale Websites funktionieren als bewusste Absage an die "Clean Design"-Doktrin großer Tech-Konzerne. Während Google, Apple und Microsoft auf immer sanftere, rundere, "menschlichere" Interfaces setzen, geht Brutalism den entgegengesetzten Weg: kantig, kompromisslos, polarisierend.
Diese Haltung resoniert besonders mit Zielgruppen, die sich von der zunehmenden Uniformität digitaler Erlebnisse gelangweilt fühlen. Brutalism bietet eine Alternative zur allgegenwärtigen "Friendly Corporate"-Ästhetik.
Brutalism intelligent einsetzen: Praxistipps
Wenn du mit brutalen Elementen experimentieren möchtest, solltest du strategisch vorgehen. Nicht jedes Projekt verträgt die volle brutale Behandlung – aber punktuelle Einsätze können sehr wirkungsvoll sein.
Strategische Planung ist bei brutalistischen Designs besonders wichtig
Beginne mit der Typografie: Ein oversized, brutal gestalteter Header kann schon ausreichen, um Aufmerksamkeit zu generieren, ohne die gesamte User Experience zu gefährden. Kombiniere diesen mit ansonsten konventioneller Navigation und Inhaltsstruktur.
Hybrid-Ansätze: Das Beste aus beiden Welten
Die erfolgreichsten brutalen Websites von 2024 nutzen Hybrid-Ansätze. Sie behalten die visuellen Schockmomente bei, sorgen aber für solide Usability-Grundlagen:
- Brutale Ästhetik in Hero-Bereichen, konventionelle Navigation im Anschluss
- Extreme Typography für Headlines, lesbare Schriften für Fließtext
- Harte Kontraste als Akzente, aber ausreichende Lesekontraste für Inhalte
- Modulare Layouts, die brutal aussehen, aber logisch strukturiert sind
SitePoint empfiehlt, brutale Elemente gezielt als Differenzierungsmerkmal einzusetzen, ohne die gesamte Site zu "brutalisieren".
Testing und Iteration
Wenn du brutal designst, ist User Testing noch wichtiger als bei konventionellen Ansätzen. Die polarisierende Natur des Stils macht es schwer vorherzusagen, wie verschiedene Nutzergruppen reagieren werden.
A/B-Tests zwischen brutalen und konventionellen Varianten können aufschlussreich sein. Achte dabei besonders auf Metriken wie Time-on-Page, Bounce Rate und Conversion-Raten. Manche Zielgruppen werden von brutaler Ästhetik angezogen, andere abgeschreckt.
Die Zukunft des digitalen Brutalismus
Brutalism ist mehr als nur ein vorübergehender Trend. Die zugrundeliegenden Prinzipien – Authentizität, Direktheit, bewusste Abgrenzung von Mainstream-Ästhetiken – sprechen fundamentale Bedürfnisse an, die sich nicht so schnell ändern werden.
Gleichzeitig entwickelt sich der Stil weiter. Wir sehen bereits "Post-Brutalism"-Ansätze, die die visuellen Codes übernehmen, aber accessibility-bewusster umsetzen. KI-Tools helfen dabei, brutale Ästhetiken mit besserer Usability zu verbinden.
Brutalism in unterschiedlichen Kontexten
Interessant ist, wie verschiedene Branchen brutale Elemente adaptieren. Fashion-Brands nutzen sie für Rebellion und Authentizität, Tech-Startups für Disruption und Innovation, Kulturinstitutionen für künstlerischen Ausdruck.
Die Herausforderung liegt darin, die rohe Ästhetik mit spezifischen Brandwerten und Nutzeranforderungen zu verbinden. Ein brutaler E-Commerce-Shop muss andere Prioritäten setzen als ein Portfolio für Experimental-Künstler.
Fazit: Brutalism als bewusste Designentscheidung
Brutalism im UI-Design ist kein Allheilmittel und definitiv nicht für jeden Einsatzzweck geeignet. Aber er bietet eine mächtige Alternative zur uniformen "Good Design"-Orthodoxie, die viele digitale Erlebnisse prägt.
Die Stärke liegt in der bewussten Polarisierung: Brutale Designs sprechen bestimmte Zielgruppen sehr direkt an, während sie andere abschrecken. Das kann strategisch durchaus erwünscht sein – besonders wenn du ein starkes, unverwechselbares Brand-Erlebnis schaffen möchtest.
Die größte Herausforderung bleibt der Spagat zwischen visueller Wirkung und praktischer Nutzbarkeit. Erfolgreiche brutale Designs finden Wege, die rohe Ästhetik mit solider UX zu verbinden. Das erfordert mehr Aufwand als konventionelles Design, kann aber zu deutlich memorableren Erlebnissen führen.
Letztendlich ist Brutalism eine Haltungsfrage: Bist du bereit, für Authentizität und Differenzierung Kompromisse bei der universellen Benutzerfreundlichkeit einzugehen? Die Antwort hängt von deinen Zielen, deiner Zielgruppe und deinem Mut zur Polarisierung ab.
Für weitere Einblicke in aktuelle Design-Trends und praktische Umsetzungstipps findest du in unserem Blog regelmäßig neue Artikel. Die Fortsetzung unserer Trend-Serie behandelt als nächstes das Thema Neumorphism – ein Stil, der in vielerlei Hinsicht das Gegenteil von Brutalism repräsentiert.
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